Unsicherheiten bei den Restnutzungsdauergutachten – kürzere Abschreibung demnächst nur noch für extreme Verfall-Immobilien?
Seit Jahren herrscht in Deutschland ein Wohnungsmangel, den die Politik mit allen Mitteln bekämpfen will, so jedenfalls die offizielle Linie. Wie die „Incentivierung“ der Immobilienbesitzer / Investoren zur Vermietung in der Realität aussieht, zeigt uns seit Jahren die Mietpreisbremse.
Die neue „Förderidee“ des Bundesrates fand sich dieses Jahr in seiner Stellungnahme zum Entwurf des Jahressteuergesetzes 2024 (Bundesrat Drucksache 369/24 (Beschluss) vom 27.09.2024; als PDF zum Herunterladen), ist aber im Gesetzgebungsprozess wohl gescheitert und angesichts der bevorstehenden Neuwahlen auch höchstwahrscheinlich mit diesem Jahressteuergesetz nicht zu erwarten.
Stellen Sie sich vor, Sie erwerben eine nicht mehr ganz neue, aber noch gut vermietbare Immobilie. Das Gebäude ist voraussichtlich noch ca. 20 Jahre nutzbar. In Ihrer Steuererklärung wollen Sie daher diese Immobilie entsprechend mit 20 Jahren abschreiben und von der gesetzlich regulär angeordneten Restnutzungsdauer von 50 Jahren abweichen. Das geht. Bis jetzt. Zu den praktischen Hindernissen kommen wir gleich.
Das Einkommensteuergesetz erlaubt es den Steuerpflichtigen in § 7 Abs. 4 Satz 2 EStG, eine niedrigere tatsächliche Nutzungsdauer anzusetzen, wenn sie diese verringerte Nutzungsdauer gegenüber dem Finanzamt nachweisen. Der Nachweis erfolgt in der Praxis durch die Vorlage eines Sachverständigengutachtens. Dabei sind sich die Finanzverwaltung und die Finanzgerichte jedoch seit Jahren uneins, welche Arten von Gutachten ausreichend sind, um die verkürzte Nutzungsdauer zu belegen. Während die Finanzgerichte in ständiger Rechtsprechung realistische Anforderungen an ein Gutachten stellen, greifen die Finanzämter in den letzten Jahren in der Praxis beinahe alle Gutachten an und lehnen so die kürzere Abschreibungsdauer durchgehend ab. Auch die Altfälle, in denen ein Gutachten bereits akzeptiert war, werden aktuell neu aufgerollt und die verkürzte Abschreibungsdauer versagt.
Der Finanzverwaltung sind die ihrer Ansicht nach niedrigschwelligen Vorgaben der Finanzgerichte für derartige Gutachten schon seit einer Weile ein Dorn im Auge: der Gesetzesentwurf für das Jahressteuergesetz 2022 vom 16.09.2022 (als PDF zum Herunterladen) sah die ersatzlose Streichung der Regelung über die verkürzte Nutzungsdauer vor. In das finale Gesetz schaffte es diese Änderung jedoch nicht. 2024 versuchte es der Bundesrat nun erneut – dieses Mal mit einer Neufassung des entsprechenden Paragraphen, die bereits ab 2025 gelten sollte.
Wir gehen davon aus, dass die vom Bundesrat im Rahmen des Jahressteuergesetzes 2024 vorgeschlagene Verschärfung es nicht in das Gesetz schafft. Der Bundesrat schlug sie zwar vor, der Finanzausschuss des Bundestags hingegen lehnte sie ab und auch der Bundestag griff sie – noch vor Scheitern der Ampelkoalition – in seiner zweiten Lesung nicht mehr auf. Bleibt also abzuwarten, ob der Bundesrat auf die Änderung besteht und sich eventuell ein Vermittlungsausschuss bilden muss, was aber nach dem Scheitern der Ampelkoalition noch schwieriger geworden ist.
Doch erst einmal von Anfang an: Wie sieht die Rechtslage aktuell aus? Was bringt sie dem Steuerzahler? Welche Differenzen bestehen zwischen der Ansicht der Finanzverwaltung und der Finanzgerichte? Und was heißt das alles für den Steuerpflichtigen aktuell und für die Zukunft?
Aktuelle Gesetzliche Regelung
Grundsätzlich geht das Gesetz bei den meisten älteren Gebäuden, die zu Wohnzwecken vermietet werden, pauschal von einer Restnutzungsdauer von 50 Jahren aus. Ergänzend sieht das Gesetz in § 7 Abs. 4 S. 2 EStG jedoch vor, dass bei der Abschreibung auch eine kürzere tatsächliche Nutzungsdauer angesetzt werden kann als die gesetzlich vorgeschriebene.
Eine verkürzte gesetzliche Nutzungsdauer erhöht den jährlich ansetzbaren Abschreibungsbetrag. Für den Steuerzahler ist dies insofern sinnvoll, da das gebundene Kapital früher steuerlich berücksichtigt wird und ihm die steuerlichen Vorteile damit früher zu kommen. Dies setzt indirekt Kapital frei, welches wiederherum schneller für (Re-)Investitionen, Renovierungsarbeiten etc. genutzt werden kann.
Vor dem Urteil des BFH vom 28.07.2021: Das kostspielige Gutachten muss sein
Vor der Entscheidung des BFH vom 28.07.2021 (IX R 25/19; als PDF zum Herunterladen) forderte die Finanzverwaltung für ein derartiges Gutachten folgende Voraussetzungen:
- Erstens musste das Gutachten von einem öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen für die Bewertung von bebauten und unbebauten Grundstücken oder von Personen, die von einer nach DIN EN ISO/IEC 17024 akkreditierten Stelle als Sachverständige oder Gutachter für die Wertermittlung von Grundstücken nach entsprechender Norm zertifiziert worden sind, erbracht werden.
- Zweitens erforderte die Finanzverwaltung ein ERAB-Gutachten (auch Bausubstanzgutachten genannt), für das – wie der Name bereits sagt – der Zustand der Bausubstanz untersucht werden muss. Für die Finanzverwaltung wesentlich war damit vor allem der Zustand des Rohbaus dafür ausschlaggebend, ob eine verkürzte Nutzungsdauer angenommen wird.
BFH vom 28.07.2021: Steuerpflichtiger darf jede geeignete Darlegungsmethode nutzen
Weil ein ERAB-Gutachten kostspielig ist, hatte sich ein Steuerpflichtiger in dem Urteilsfall für das einfachere gutachterliche Verfahren der Gebäudesachwertermittlung (nach §§ 21 ff. i.V.m. § 6 Abs. 6 ImmoWertV) entschieden, um die Restnutzungsdauer zu bestimmen. Die Finanzverwaltung lehnte das Gutachten erwartungsgemäß ab.
Das FG Düsseldorf als Vorinstanz (Urteil vom 12.07.2019 – 3 K 3307/16 F; als PDF zum Herunterladen) und der BFH in seinem Urteil vom 28.07.2021 (IX R 25/19; als PDF zum Herunterladen) als Revisionsgerichte stellten jedoch klar: Der Steuerpflichtige kann sich jeder Darlegungsmethode bedienen, die im Einzelfall zur Führung des erforderlichen Nachweises geeignet erscheint. Eine Verengung der Gutachtermethodik bzw. die Festlegung auf ein bestimmtes Ermittlungsverfahren würde, so der BFH, die Anforderung an die Feststellungslast überspannen. Insbesondere hielt der BFH im Urteilsleitsatz fest, dass die Vorlage eines Bausubstanzgutachtens keine Voraussetzung ist.
BMF-Schreiben vom 22.2.2023: DAs BMF reagiert auf die Rechtsprechung mit einem klaren „Ja, aber Nein“
Die Entscheidung des BFH veranlasste das Bundesfinanzministerium sich in seinem Schreiben vom 22.02.2023 (als PDF zum Herunterladen) zu den – nach seiner Auffassung – zulässigen Gutachtermethoden zu äußern:
- Hiernach sei zwar ein Bausubstanzgutachten nicht erforderlich, allerdings könne dies „hilfreiche Anhaltspunkte zur Beurteilung des Einzelfalls enthalten“.
- Gleichzeitig stellte das Schreiben fest, dass zur Ermittlung der Restnutzungsdauer die „bloße Übernahme“ der Restnutzungsdauer aus einem Verkehrswertgutachten und / oder die „isolierte Verwendung“ von Modellen der ImmoWertV nicht ausreiche.
- Der Gutachtenzweck müsse sich zudem ausdrücklich auf die Ermittlung der kürzeren tatsächlichen Nutzungsdauer beziehen und zwingend Bezug auf die maßgeblichen Kriterien für die verkürzte Nutzungsdauern nehmen.
Auch wenn das BMF-Schreiben dem BFH-Urteil vom 28.07.2021 nicht explizit widerspricht und versucht im Einklang mit der Rechtsprechung zu stehen, merkt man ihm doch deutlich an, dass das Bausubstanzgutachten weiterhin als vorzugswert gegenüber Gutachten nach der ImmoWertV gesehen werden soll. Insgesamt liest sich die Ausführung zur Nachweismethodik fast wie eine Empfehlung, auf die vereinfachte Gutachtenmethodik wegen ihrer geringen Erfolgschancen vor dem Finanzamt anerkannt zu werden, zu verzichten.
Neues BFH-Urteil vom 23.01.2024: Schreiben des Bundesministeriums für Finanzen so nicht haltbar
Anfang dieses Jahres sah sich der BFH in dem Urteil vom 23.01.2024 (IX R 14/23, als PDF zum Herunterladen) daher erneut mit der Fragestellung konfrontiert, wie mit dem günstiger zu erstellenden ImmoWertV-Gutachten in Bezug auf die Nutzungsdauerkürzung umzugehen ist. Dabei hat der BFH auch Stellung zum BMF-Schreiben bezogen.
Der Bundesfinanzhof stellt erneut klar, dass die weitergehenden Anforderungen und Einschränkungen der Finanzverwaltung sich dem Gesetz so in Gänze nicht entnehmen lassen. Insbesondere sei der Hinweis, dass eine „bloße Übernahme“ der Restnutzungsdauer aus einem Verkehrswertgutachten nicht ausreiche – wie es im BMF-Schreiben heißt -, in dieser Form nicht tragfähig. Die Ermittlung der Restnutzungsdauer anhand der vereinfachten Gutachtenmethodik könne ohne eine gesetzliche Anordnung für steuerrechtliche Schätzungen nicht ausgeschlossen werden, schließlich handelt es sich dabei um eine gutachterlich anerkannte Schätzungsmethode.
Der BFH bestätigte zwar, dass eine allein modelhafte ermittelte Gesamt-/ Restnutzungsdauer nicht ausreiche. Es müssten die individuellen Gegebenheiten des Objekts berücksichtigt werden. Allerdings müsse das Sachverständigengutachten sich nicht zu allen maßgeblichen Kriterien (technischer Verschleiß, wirtschaftliche Entwertung, rechtliche Gegebenheiten) äußern – es reiche eines zur Begründung der früheren Entwertung.
Jahressteuergesetz als Reaktion der Finanzverwaltung
Die Finanzverwaltung hat das BFH-Urteil vom 23.01.2024 im Bundessteuerblatt nicht veröffentlicht. Die höchstrichterliche Rechtsprechung soll damit – wie leider allzu oft – von den Finanzämtern nicht angewendet werden. Das entspricht auch der praktischen Handhabung durch die Finanzämter, die wir bei unseren Mandanten sehen. Die vereinfachten Restnutzungsdauergutachten werden daher massenhaft nicht anerkannt.
Im aktuell laufenden Gesetzgebungsverfahren zum Jahressteuergesetz 2024, wenn es nach dem Vorschlag des Bundesrates geht, sollte nun auch die gesetzliche Grundlage für die kürzere Restnutzungsdauer zulasten der Steuerpflichtigen gravierend eingeschränkt werden:
- Erstens sollte festgeschrieben werden, wer derartige Gutachten erbringen darf – nämlich jene Personen, die aktuell bereits von der Finanzverwaltung anerkannt
- Zweitens sollte eine Vorortbesichtigung für die Gutachtenerstellung zur Pflicht werden (um Ferngutachten zu verhindern).
- Und da die Steuerpflichtigen die beiden ersten Verschärfungen noch in Griff bekommen können, auch wenn die Gutachten teurer werden, sollte drittens eine kürzere tatsächliche Nutzungsdauer nur noch angesetzt werden können, wenn sie weniger als 20% der regulären Nutzungsdauer beträgt. Praktisch heißt es etwa in unserem Beispielsfall für ein Gebäude mit der regulären Abschreibungsdauer von 50 Jahren, dass die kürzere Abschreibungsdauer für das Gebäude nur noch möglich sein soll, wenn das Gutachten die Restnutzungsdauer von unter 10 Jahren Sollte die Restnutzungsdauer dagegen genau 10 Jahre oder mehr betragen, ist die kürzere Abschreibungsdauer komplett ausgeschlossen!
Kritik an dem Vorschlag des Bundesrates
Mögen die ersten zwei Punkte noch nachvollziehbar erscheinen, hagelte es vor allem für den letzten Punkt verständlicherweise aus vielen Richtungen Kritik. So sprach sich nicht nur der GdW Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen e.V. (GdW-Stellungnahme: Entwurf eines Jahressteuergesetzes 2024 – Die Wohnungswirtschaft Bayern) in seiner Stellungnahme gegen eine derartige 20 % Regelung aus, sondern auch der Bund der Steuerzahler Deutschland e.V. (Stellungnahme zum Regierungsentwurf eines Jahressteuergesetzes 2024 | Bund der Steuerzahler e.V.) sowie die gemeinsame Stellungnahme von acht Spitzenorganisationen der deutschen Wirtschaft (darunter bspw. die IHK als auch die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände e.V.) (Stellungnahme zum Jahressteuergesetz 2024 abgegeben – IHK Heilbronn-Franken).
Der Vorschlag des Bundesrates wird einheitlich für „deutlich überzogen, schlichtweg nicht sachgerecht“ gehalten, aber auch verfassungsrechtliche Zweifel werden geäußert – insbesondere wegen einer möglichen Übermaßbesteuerung und der fehlenden Öffnungsklausel.
Auch wir sind der Überzeugung, dass die die geplanten Änderungen in ihrer aktuellen Form verfassungswidrig sind. Es widerspricht vor allem dem grundlegenden Prinzip des Steuerrechts, dass die Steuerpflichtigen nach ihrer Leistungsfähigkeit besteuert werden. Wenn eine kürzere tatsächliche Restnutzungsdauer steuerlich nicht berücksichtigt wird, wird das Leistungsfähigkeitsprinzip nicht mehr gewahrt.
Es hat folglich seine Gründe, dass der Finanzausschuss des Bundestags den Vorschlag des Bundesrats nicht in die überarbeitete Gesetzesfassung für die zweite Lesung mitaufnahm.
Und nun?
Sollte der Gesetzgeber in diesem oder auch einem künftigen Gesetzgebungsverfahren sich dem Vorschlag des Bundesrates wieder annähern, kann man sich bereits jetzt auf jahrelange Gerichtsprozesse einstellen, die schließlich nach vielen Jahren vor dem Bundefinanzhof und vermutlich dann auch dem Bundesverfassungsgericht landen werden. Klarheit für das diesjährige Jahressteuergesetz 2024 werden wir vermutlich beim nächsten Zusammentreffen des Bundesrates am 22.11. haben.
Die aktuelle Initiative des Bundesrates veranlasst manch einen „Immobilien-Guru“ bereits vorschnell zur Empfehlung, jetzt noch den Kauf der Wunschimmobile zu tätigen, um unter die alte Gesetzeslage zu fallen und sich dadurch Steuern zu sparen. Die Gutachteranbieter sorgen sich um ihre Kunden und werben teilweise proaktiv damit, schnell noch ein Gutachten im Jahr 2024 zu erstellen. Vor solchen Empfehlungen im Internet können wir nur warnen:
Sollte es wider Erwarten zur Neuregelung im Sinne des Vorschlags in diesem Jahr kommen, so wird diese bereits ab dem Veranlagungszeitraum 2025 gelten. Da es sich bei der Abschreibung um eine Abschnittsbesteuerung handelt, wird das geänderte Recht für alle künftigen Abschreibungen ab dem nächsten Veranlagungszeitraum gelten, unabhängig von dem Zeitpunkt der Anschaffung des Gebäudes. Der Gesetzesentwurf zum JStG 2024 enthält daher auch keinen Bestandsschutz für Gebäude, die noch vor dem Jahr 2025 erworben wurden. Mit einer jetzt noch angeschafften Immobilie und einem entsprechenden Gutachten könnte man sich daher lediglich für die wenigen verbleibenden Monate des Jahres 2024 ein bisschen Geld sparen, aber ob das sich bei den üblichen Kosten für derartige Gutachten überhaupt rentiert, ist fraglich.
Ein positiver Gedanke zum Schluss
Wenn man an dem Ganzen etwas Positives sehen will: Durch die Gesetzesinitiative erkennt der Gesetzgeber jedenfalls indirekt die aktuellen Vorgaben der Rechtsprechung an – immerhin verweisen sie auf die Rechtsprechung in der Gesetzesbegründung. Der Steuerpflichtige darf sich weiterhin – bis es wirklich zur Gesetzesänderung kommt – jeder sachverständigen Darlegungsmethode bedienen, die im Einzelfall zur Führung des erforderlichen Nachweises im Sinne der Rechtsprechung des BFH geeignet erscheint. Das gilt auch für die Gutachten, die zulässigerweise ohne eine Vorortbesichtigung durchgeführt worden sind.
Im Moment haben daher Widersprüche oder Klagen gegen eine gegenteilige Ansicht der Finanzbehörden gute Chancen auf Erfolg. Und hoffentlich besinnt sich die Finanzverwaltung irgendwann mal dabei auch auf die Selbstverständlichkeit, dass ein Gutachten auch nachträglich, d.h. in der Regel nach dem Erwerb des Objekts, erstellt werden kann. Denn ein „rückwirkendes“ Gutachten ist im Steuerrecht keinesfalls etwas Verwerfliches, sondern der Normalfall, sowohl für die die Zwecke der Bestimmung der Restnutzungsdauer als auch beispielsweise für die Bewertung nach einem Erbfall oder Schenkung.
SVETLANA HEIL | RECHTSANWÄLTIN | STEUERBERATERIN
HEIDE EFFNER | WISSENSCHAFTLICHE MITARBEITERIN